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Interview mit Irmela Wiemann

Frau Wiemann, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeuten und Familientherapeutin, engagiert sich seit mehr als 40 Jahren in der Arbeit mit Familien, insbesondere auch mit Pflege- und Adoptivfamilien. Die SFP verlieh Frau Wiemann die Ehrenmitgliedschaft in Anerkennung ihrer Leistungen für Pflegefamilien und Pflegekinder. Sie vermittelt in ihren Kursen, Seminaren und Büchern nicht nur fachlich fundierte Pädagogik, sondern zeigt mit ihrer herzlichen und zugleich klaren Art auch praxisorientierte Haltungen und Fertigkeiten auf. So trug und trägt Frau Wiemann im deutschsprachigen Raum wesentlich dazu bei, dass Pflegeeltern und Fachpersonen in der Familienpflege neue förderliche Wege in herausfordernden Situationen mit belasteten Kindern gehen können. Frau Wiemann gehört damit zu den wenigen herausstehenden Menschen, die einen derart praxisbezogenen und wesentlichen Beitrag für Pflegefamilien und Pflegekinder leistete. 

 

Frau Wiemann, wissen Sie wie viele Pflegeeltern und Fachpersonen schon Ihre Weiterbildungen besucht haben?

Sehr viele. Ich habe in den letzten 40 Jahren pro Jahr im Durchschnitt sicherlich ca. 5’000 Menschen erreicht, das wären dann ca. 200’000 Pflege-, Adoptiv-, und leibliche Eltern (auch für die habe ich Fortbildungen und Gruppen gestaltet), Verwandte, Grosseltern und Fachkräfte im deutschsprachigen Raum. Viele habe ich über Jahre regelmäßig begleitet in Gruppen, in Familien, in Supervisionen und auch in Einzelberatungen.

 

Sie haben wohl unzählige Seminare und Kurse gegeben und mehrere Bücher zum Thema Pflegefamilien und Pflegekinder geschrieben. Was motiviert Sie oder brachte Sie auf diesen Weg?

1978 haben wir in unserer Familie einen Pflegesohn aufgenommen. Ich war ja seit 1974 als Therapeutin und Beraterin in einer kommunalen Erziehungsberatung tätig. Damals kam der Pflegekinderdienst der Stadt Frankfurt auf mich zu und fragte mich, ob ich Wochenendkurse für Pflegeeltern gestalten wolle, da ich einerseits Fachfrau und andererseits selbst Pflegemutter sei. Das könnte den Pflegeeltern gefallen. Nach den ersten Veranstaltungen fragten auch andere Pflegekinderdienste und Träger an, aber auch Träger von Pflegekinderdiensten, kommunale und öffentliche Träger, auch Kinderdörfer, Wohngruppen etc. Ich lernte von denen, mit denen ich Fortbildungen gestaltete und sammelte immer mehr Erfahrungen. Der Pflegesohn ist heute 54 und ich bin immer noch beim Thema. 

 

Die Wichtigkeit der Biographie, die Feinfühligkeit für die Bedürfnisse der Pflegekinder und ein Ernstnehmen auf Augenhöhe der Pflegekinder sind herausstehende Themen und Haltungen in Ihren Büchern und Weiterbildungen. Wie kamen Sie zur Gewichtung dieser Themen?

Schon früh entdeckte ich, dass Pflegekinder zwar einerseits junge Menschen wie alle anderen sind und nichts Besonderes sein möchten, dass sie jedoch durch ihr spezielles Schicksal geprägt und in Teilen ihrer Persönlichkeit seelisch verletzte junge Menschen sind. Auch die Bedeutung der Herkunftsfamilie, der Urschmerz, von der ersten Familie getrennt worden zu sein, wirken weiter auf das Leben von Pflegekindern, selbst dann, wenn sie in ihrem neuen Lebensumfeld bestens integriert sind. Sie müssen zwei Familienwelten in ihrem Innern verbinden. Ich habe mit unzähligen jungen Menschen über diese Themen gesprochen und erlebt, wie wichtig sie ihnen sind.

 

Als Sie Ihren beruflichen Weg begonnen haben, gab es die Traumapädagogik als solche noch nicht. Heute wird Traumapädagogik zunehmend bekannter. Was für eine Bedeutung kommt der Traumapädagogik aus Ihrer Sicht zu? 

 

Schon bevor es diese ja recht junge Disziplin der Traumapädagogik gab, arbeitete ich schon viele Jahre mit Pflege- und Adoptiveltern und Heimerzieher*innen an einer «heilenden Pädagogik». Die beinhaltete ein Alltagsklima ohne Stress und Strafe, die den jungen Menschen ermöglichte, sich geachtet und ernst genommen zu fühlen und sich von frühen Verletzungen zu erholen. Als sich die Traumapädagogik etablierte, war ich sehr dankbar, denn sie bestärkte mich auf meinem Weg. Ein Kernstück der Traumapädagogik ist das «Prinzip vom guten Grund», das besagt, dass ungewöhnliches oder abweichendes Verhalten der jungen Menschen angemessen ist für das, was sie erlebt haben. Sie werden geachtet und wertgeschätzt. Ihre Motive werden ernst genommen. Sie werden ermutigt, neue Verhaltensweisen zu erlernen.

 

Die SFP setzt sich für bestmögliche Bedingungen von Pflegefamilien und Pflegekinder in der Schweiz ein. Sie unterrichten viel in der Schweiz und kennen die Familienpflege hierzulande gut. Wenn Sie einen Zauberwunsch für die Schweiz frei hätten, was würden Sie der Familienpflege hier wünschen?

 

In der Schweiz gibt es unendlich viele feinfühlige und engagierte Pflegeeltern. Die fachliche Betreuung und Begleitung, die personellen Ressourcen und das Fachwissen der Fachkräfte in den Behörden hat allerdings sehr unterschiedliche Standards. Eigentlich müssten Biografiearbeit und Traumapädagogik gesetzlich verankert werden und die Rahmenbedingungen und Ressourcen für die Verwirklichung zur Verfügung gestellt werden. Daneben hat Priorität, die Situation zwischen Herkunftsfamilie und Pflegefamilie im Interesse der Kinder entspannt zu gestalten. Ansonsten kann die Hilfe zur Erziehung in einer Pflegefamilie mehr seelische Belastungen als Gewinn für das Kind mitbringen. Auch hierfür benötigt es offizielle Konzepte und Richtlinien: Nur wenn es eine wie auch immer gelebte Balance zwischen den Herkunftsfamilien und den Pflegefamilien gibt, so gibt es Frieden im Innern der jungen Menschen. 

 

Herzlichen Dank für das Interview. 

25.02.20

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